Bilanz

14.09.2018

Heute Schreiben wir den Tag 374 der Trennung zu meinem alten Leben in Deutschland. Vermutlich fragt ihr euch wie Ich dazu komme von 2 unterschiedlichen Leben zu sprechen. Immerhin bin Ich nicht gestorben und nein Ich leide auch nicht an einer Persönlichkeitsstörung. Auch ist mein Name immer noch Felix und auch äußerlich habe Ich mich nur minimal verändert. Augenscheinlich ist also alles beim Alten geblieben. Doch wie das Wort Augenscheinlich schon beschreibt, ist nur das beim Alten geblieben was mit dem Auge wahrzunehmen ist. Ich möchte die 1-Jahresmarke meines Auslandsaufenthaltes dazu nutzen um Bilanz zu ziehen. Ich möchte ganz offen schreiben, wie Ich mich verändert habe, was wir schon erreicht haben, was nicht so gut lief und was die kommenden Ziele und Herausforderungen in den kommenden sechs Monaten sind.

Fangen wir mit dem Projekt an. Als ich im September 2017 das erste Mal die Pforte der Liceo de la Amistad durchschritt, war ich überrascht. Ich hatte nicht ein so sauberes, lebendiges und hügeliges Schulgelände erwartet, 500 Treppen am Tag sind keine Ausnahme. Doch meine Erwartungen, besser gesagt mein plumpes vom deutschen Schulsystem geprägtes Bild sollte sich im Laufe der Zeit noch des Öfteren wiederlegen. So ging Ich zum Beispiel auch mit der Erwartung nach Cali das alle Kinder Lust und die Motivation haben zu lernen. Einfach gesagt dachte ich "das ist die Unterschicht, die wissen doch das Bildung alles ist, die werden voll Bock haben zu lernen und mir die Wörter nur so aus dem Mund saugen". Tja was soll Ich sagen, ein komplettes Falschdenken. Diese Art des Verständnisses besitzt nur ein kleiner Teil der Schüler. Aber wer kann es ihnen verübeln. Es sind eben auch nur Kinder, die andere Sachen im Kopf haben als Deutsch oder Mathematik. In Deutschland ist es nicht anders, die Jungs haben dann eben doch eher ihre Videospiele, Quatsch oder das hübsche Nachbarsmädchen im Kopf. Bei den Mädchen ist es das gleiche, Instagram wiegt eben in diesem Alter mehr als irgendeine Formel aus dem alten Griechenland.

Mal ganz davon abgesehen, fällt es sehr schwer sich bei der Hitze zu konzentrieren. Auch Ich habe hier so meine Probleme mit der Konzentration und Arbeitsmotivation. Einzige Ausnahme ist da der Intercambio-Kurs, womit es auch durch ihre Hilfe, die Hilfe des Unterstützerkreises, 2 ehemalige Schülerinnen aus Terron ermöglicht wurde ein soziales Jahr in Deutschland zu absolvieren. Beide (Isabel und Angela) sind nun auch schon seit ca. 3 Wochen in Deutschland und blühen mit viel Freude und Fleiß in ihren jeweiligen Arbeitsstellen auf. Auch mich macht das natürlich Stolz. Es ist wie man so schön sagt, den jungen Vögeln beim Fliegen zuzusehen. Und ja es war kein leichter Weg. Doch zusammen mit meiner ehemaligen Mitbewohnerin Mathilda und Team Buga haben wir das glaube ich ganz gut gemeistert. Insgesamt haben wir so 8 jungen Menschen eine großartige Chance ermöglicht. Ich hoffe sie machen das bester daraus.

Mittlerweile gibt es schon wieder einen neuen Intercambio-Kurs, welcher deutlich voller besetzt ist als der Kurs letztes Jahr. Der Kurs macht schnelle und große Fortschritte. Geleitet wird er von der neuen Freiwilligen Catalina (auch neue Mitbewohnerin) und mir. Ich bin gespannt wer es nächstes Jahr nach Deutschland schafft. Und wünsche allen nur das Beste, die nächsten 6 Monate werde Ich sie auf jeden Fall begleiten.

Ich will ganz ehrlich zu euch sein, gäbe es den Intercambio-Kurs nicht würde Ich mit hoher Wahrscheinlichkeit schon im Flieger nach Deutschland sitzen. Die Klassen mit der 7° und 8° Stufe sind extrem anstrengend und nervenraubend. Denn von 35 Schülern bekommen es gefühlt 5 hin auf ihrem Hintern sitzen zu bleiben und sich zu konzentrieren. Der Rest schreit rennend durch das Klassenzimmer. Teilweise sind wir zu 3. mit unserem Latein am Ende. Der IC-Kurs, mit seinen motivierten, ehrgeizigen und zielstrebigen Schülern, stellt daher schon fast eine Belohnung dar. Auch das Fundraising bei welchen wir die IC-Schüler unterstützen ist eine schöne Abwechslung zu dem gewöhnlichen Frontalunterricht. Letzten Freitag z.B. haben wir Arroz con leche (Milchreis) gekocht und diesen dann später in Terron von Haus zu Haus verkauft. Glaubt mir, dass ist anstrengender als man denkt. Trotzdem hatten wir viel Spaß an diesem schwülen Freitag.

Stichwort schwül. Die letzten 2 Monate waren extrem schwül aber eben ohne Regen. Man wartet quasi jeden Tag darauf, dass es wie aus Kübeln schüttet und es kommt einfach nichts. Das ist zu vergleichen mit einem Niesen das sich ankündigt aber dann doch nicht kommen möchte. Ziemlich unbefriedigend. Ich freue mich schon auf die Regenzeit im Oktober.

Doch lassen wir ab von dem Lückenfüller Wetter und begeben wir uns wieder zu dem Eigentlichen Thema dieses Textes. Ziehen wir doch mal Bilanz zu dem Thema Gewalt. Leider ist das immer noch in vielen Köpfen der westlichen Welt fest verankert. Kolumbien, das Land des Kokains, der Gewalt und der leichten Frauen. Ich kann euch versichern, so ist es nicht. Natürlich trifft ein jedes Vorurteil in gewisser Art und Weise zu. So habe Ich vor 4 Wochen das erste Mal in meinem Leben einen Tatort gesehen. Unheimliche Atmosphäre, da alles noch ziemlich frisch war und ich einer der wenigen die an diesem Sonntagmorgen an dem von Kugeln durchsiebten Auto vorbeikamen. Doch so wie es in der Netflix-Serie Narcos dargestellt wird, ist es schon lange nicht mehr. Dazu muss man sagen, dass das auch kein Viertel ist in welchem man sich als Tourist geschweige denn als Ausländer hätte rumtreiben sollen. Trotz dieser Erfahrung muss ich sagen, dass Kolumbien bei weitem sicherer geworden ist als es noch vor 10 Jahren war. Genau deshalb und auch zurecht erlebt Kolumbien aktuell einen wahren Touristenboom, die Hostels sprießen nur so aus dem Boden. Zudem bemüht sich die Regierung sehr um für das Wohlergehen der Touristen zu sorgen. Das Polizei- und Militäraufgebot auf der Straße ist ungefähr 5 Mal so hoch wie in Deutschland. Man fühlt sich in vielen Gegenden relativ sicher. Aber auch sonst bin Ich mir ziemlich sicher, dass es mir persönlich auch mal gut tat Unsicherheit zu erfahren (selbstverständlich alles im Rahmen), denn so lernt man das Gut der Sicherheit welches wir in Deutschland besitzen nicht mehr als selbstverständlich anzusehen. Eine wichtige Erfahrung wie Ich finde.

Ebenfalls eine wichtige Erfahrung die Ich hier gemacht habe, ist das Thema Freundschaft. Ja es stimmt die Kolumbianer sind unglaublich offen und herzlich, aber oft ist das mehr Schein als Sein. So ist es zwar so, dass man ziemlich schnell in einen Freundeskreis reinkommt genauso schnell aber auch wieder raus. Oft hat man das Gefühl einen wahren Freund gefunden zu haben, weil man sich gut versteht, auf einer Welle ist und viel unternimmt. Doch wenn diese freundschaftliche Beziehung auch nur einmal gestört wird bzw. nicht so mehr so aktiv betrieben wird, passiert es schnell das die Freundschaft im Sande verläuft und sich beide so benehmen als hätte man sich nie gekannt. Dies war sehr befremdlich für mich in den ersten Monaten, und mittlerweile weiß Ich damit umzugehen. So ist mir klar, dass ich hier keine Freunde auf Lebenszeit finden werde. Selbstverständlich werden mir viele in Erinnerung bleiben und mit manchen werde ich auch Kontakt halten, aber es ist ganz simple gesagt nicht das gleiche wie in Deutschland. Es ist hier eben auch ein kommen und gehen. Sehr viele gute Freundschaften, bzw. Freundschaften aus denen was hätte werden können, wurden dadurch beendet oder unterbrochen das die Person weggezogen ist oder nach Deutschland ging.

Auch das hat mir klargemacht, dass mir die Freundschaften in Deutschland extrem wichtig sind und ich freue mich wirklich ziemlich auf meine Freunde in Deutschland. Anders in dem Bezug ist das Thema Liebe, aber das ist privat ;).

Hätte Ich Kolumbien vor meiner Reise in 3 Wörtern beschreiben müssen wären diese folgende gewesen: Drogen, Gewalt und Armut. Eben die klassische stereotypische Denkweise. Müsste Ich Kolumbien heute in 3 Worten beschreiben so wären diese: Ungleichheit, Vielfalt aber auch Leidenschaft. (bewusst habe ich auch ein negatives Merkmal eingebaut, denn man muss ja nichts schöner malen wie es nun mal ist). Ungleichheit in Bezug auf die Vermögensverteilung und die daraus resultierenden Perspektiven der jeweiligen Schichten. In Kolumbien ist viel privatisiert bedeutet wer Geld hat kann sich viele Vorteile gegenüber dem einfachen Volk erkaufen. Ein einfaches Beispiel Bildung. Das fängt schon mit der Grundschule an, wer Geld hat schickt sein Kind auf irgendeine noble Privatschule, wer dies nicht hat eben nicht. Die Unterschiede der staatlichen und privaten Schuleinrichtungen sind jedoch Immens. Dadurch wird eine sehr starke Ungleichheit erzeugt. Dabei ist Kolumbien eigentlich so ein reiches Land, reich an Bodenschätzen und Reich an Vielfalt. Denn es gibt nicht den "reinen" Kolumbianer. Kolumbianer sind dunkel, hell, Café (so nennt man den Hauttyp wirklich) Und trotzdem leben alle mehr oder weniger in Frieden zusammen. Zwar lassen sich Tendenzen Erkennen was das Vermögen in Zusammenhang mit der Hautfarbe angeht, jedoch ist dies bei weitem nicht so stark ausgeprägt wie in den USA oder Europa. Von der Natur und der Tierwelt brauche ich gar nicht erst anzufangen. Vermutlich würde sich mit der Beschreibung der Tiere und der Vegetation ganze Bücher füllen lassen. Mit dem letzten Punkt meiner Aufzählung der Leidenschaft beziehe ich mich auf die Lebensart der Menschen hier. Wenn was gemacht wir dann mit Emotionen, das kann die Beziehung sein, der Fußball oder die Freizeitgestaltung. Die Menschen haben hier eine unglaubliche Energie, es passiert immer was. Es geht immer irgendwo was ab.

Ob ich mich selber verändert habe? Mit Sicherheit, optisch vielleicht nicht zu sehr, das fällt mir schwer zu sagen. Doch mental bin ich mir ziemlich sicher. In vielen Situationen reagieren ich nun anders, habe andere Blickwinkel. Ich habe durch die vielen Erfahrungen, Eindrücke und Erlebnisse einiges dazu gelernt. Und bin dadurch in meinem Kopf, also in meinem Denken deutlich reifer geworden. Auch würde ich sagen habe ich mehr zu mir selber gefunden. Denn erst in Extremsituationen, so mein Gefühl, erfährt man mehr über sein eigentliches Ich. Doch lasst euch gesagt sein meine Neugierde, mein Wissensdrang und mein Wille die Welt ein kleines bisschen gerechter zu machen sind noch lang nicht versiegt. Der Drang weiter zu machen ist immer noch da und wird dank eurer Spenden für weitere 6 Monate ermöglicht. In dieser Zeit werdet ihr mit Sicherheit noch das ein oder andere Mal von mir hören. Macht es gut meine Freunde. Wir sehen uns!

Liebe Grüße Felix

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